Lemire stürzt den Zuschauer mitten ins Geschehen. Er hält sich nicht lange mit Exposition auf, sondern setzt mehr auf ein ambivalentes Gefühl, gepaart mit atmosphärischen Bildern. Für die zeichnet Andrea Sorrentino verantwortlich. Das Autor-Zeichner-Team hat zuvor als moderne Klassiker geltende Geschichten mit Green Arrow und Old Man Logan erschaffen und begibt sich mit dieser Serie auf ganz eigenes Terrain. Lemire begleiteten die Grundzüge der Geschichte schon lange. Es waren eigentlich zwei Geschichten, die jede für sich nicht funktionierten, aber als Lemire erkannte, dass er sie kombinieren konnte, zeigte sich, dass das jeweils andere Element das war, was bislang gefehlt hatte. Auch daraus ergibt sich die duale Erzählweise, die den besonderen Reiz von Gideon Falls ausmacht.

Im ersten Band gibt es kaum Berührungspunkte. Man hat die Geschichte in der Großstadt und die Geschichte in der Kleinstadt, aber je länger und komplexer sie werden, desto mehr gibt es Details, die für die jeweils andere eine Bedeutung erlangen.

Lemire arbeitet mit Empfindungen, mehr mit Erleben und Fühlen als mit Verstehen und Rationalisieren. In der Beziehung wird seine Primär-Inspiration deutlich: David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks.

Der Website Comic Book Resources erzählte er: „Die größte Inspiration ist Twin Peaks. Das ist mein liebstes Stück Kunst, Film und Fernsehen – und das, seit ich 13 Jahre alt war. Dies ist also meine Liebeserklärung an Twin Peaks. Aber das heißt nicht, dass ich versuchen würde, Twin Peaks zu kopieren oder nachzuahmen. Wir wollen unsere eigene Welt erschaffen. Abseits von Lynch und seiner Serie sind die größten Einflüsse auf Gideon Falls für mich H.P. Lovecraft und die Filme Jacob’s Ladder, The Shining und ES.“

Aber das sind längst nicht alle von Lemires Einflüssen. Auch Tom Waits‘ Song What He’s Building in There?, das 1999 als Teils des Albums Mule Variations veröffentlicht wurde, hing Lemire lange nach. Der Sprechgesang über einen Fremden und was er in seiner Scheune fabriziert ist im Grunde fast so etwas wie das Titellied zu Gideon Falls. Weiterhin nannte Lemire Grant Morrisons und Klaus Jansons Batman-Comic Gothic mit dem gruseligen Mr. Whisper und Linden MacIntyres Roman The Bishop’s Man, in dem ein Priester in der kanadischen Provinz ankommt, um einen Missbrauchsvorwurf zu überprüfen.

Vor allem ist es aber die Twin Peaks-DNS mit einem Kleinstadtmysterium und übernatürlichen Elementen. Dem Magazin Paste erklärte Lemire: „Andrea und ich haben hart daran gearbeitet, eine ganz eigene Mythologie zu entwickeln. Aber ich habe sehr viel von Twin Peaks gelernt, was eine serialisierte Narrative rund um ein Mysterium betrifft – darüber, was man machen und was man nicht machen sollte. Als die neue Staffel herauskam, arbeitete ich gerade an Gideon Falls. Die neue Staffel bot mir ganz neue Inspiration, die mich dazu brachte, normale narrative Methoden und Erwartungen über Bord zu werfen. Die Leser werden das vor allem im dritten Storybogen und darüber hinaussehen, da die Serie dann sehr viel experimenteller wird.“

Aber nicht nur Lemire, auch Sorrentino lotet die Grenzen dessen aus, was das Medium Comic zu bieten hat. Er arbeitet mit sehr ungewöhnlichen, Konventionen brechenden Perspektiven, was sich nirgendwo besser als im vierten Kapitel der ersten Geschichte zeigt, als er auf einer Doppelseite mit Hilfe vieler kleiner Würfel, die zum Teil in ihre Einzelteile zerfallen, eine Dreidimensionalität aufbaut, die atemberaubend ist.

Wie schon bei Lemires Descender wurden auch bei Gideon Falls schon im Vorfeld die Verfilmungsrechte verkauft. Die Produktionsfirma Hivemind, die u.a. an einer William-Gaines-Filmbiographie und einer Serienadaption seines EC-Comics Weird Fantasy arbeitet, hat die Rechte erworben und wird aus Gideon Falls eine Fernsehserie machen, an der Lemire und Sorrentino auch als ausführende Produzenten beteiligt sind. In erster Linie, das erklärten beide Künstler übereinstimmend, ist für Lemire und Sorrentino der Comic im Fokus ihres Schaffens. Sie wollen in diesem Medium die beste Geschichte erschaffen, zu der sie nur in der Lage sind, und damit der Serienproduktion etwas an die Hand geben, mit dem die TV-Macher dann arbeiten können.

Der Leser ist damit klar im Vorteil. Er kann sich schon lange vor den Fernsehzuschauern in eine Welt begeben, die schön und furchterregend zugleich ist. Willkommen in Gideon Falls, einer Stadt, die man so schnell nicht wieder vergisst.

Von Peter

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert